Bei jedem Schritt ist Wehmut dabei

Nun kehren die Viehherden von der Alp ins Tal zurück

Die Tage sind spürbar kürzer geworden. Steht der Älpler am Morgen auf um seine Kühe zu melken, ist es eine Jackenschicht kälter als noch vor wenigen Wochen. Perlengleich hängt das frische Tau an den Grashalmen. Die Gedanken an das Ende der Alpzeit sind zwar da, wahrhaben will man sie jedoch noch nicht. Und doch ist es Zeit, sich mit der bevorstehenden Alpabfahrt auseinander zu setzen. In wenigen Tagen ist jene Zeit vorbei, welche die Älpler gerne als die schönste Jahreszeit bezeichnen. Und dies trotz allem, dass die Arbeit auf einer Alp trotz der einsetzenden Mechanisierung nicht zu unterschätzen ist.

Während auf der Alp mehr oder weniger noch alles einen geordneten Ablauf einnimmt, hat sich im Haus der Bauernfamilie unten im Tal eine gewisse Hektik bemerkbar gemacht. Fleissige, zumeist Frauenhände, binden die letzten noch im Garten blühenden Blumen und Tannäste zu kunstvollen Gestecken, den so genannten "Meien". Dahlien, Herbstastern oder Chrysanthemen sind dabei besonders beliebt. Aber auch die auf der Alp noch vorhandenen Silberdisteln werden in die Gestecke integriert. Wahre Kunstwerke werden die Kühe wenige Tage später als Kopfschmuck ins Tal hinunter tragen.

Während Frau die filigrane Handarbeit vom Blumenbinden ausübt, bleibt Mann nicht untätig. Schliesslich sollen auch die schweren Glocken und die Schellen vom Jungvieh glänzen. Und da hat so jeder Bauer sein eigenes Hausmittelchen. Mit etwas schwarzer Schuhwichse an einem Lappen bekommen die grossen Glocken wieder eine passable Farbe und bei den Schellen schwören nicht wenige auf ein seit Generationen angewandtes Mittel namens "Sigolin". In Reih und Glied stehen so die Glocken vor der Alphütte. Den Tieren angezogen werden sie erst kurz vor dem Abmarsch. Schliesslich soll die ganze Reinigungsarbeit der vergangenen Tage nicht vergebens gewesen sein. Der Blumenschmuck wird ebenfalls kurzfristig montiert. Schliesslich soll dieser bei einer ungewollten Rangelei der Tiere nicht zerstört werden.

Und dann ist er da – der Tag der Alpabfahrt. Die Nervosität vom Älpler und seinen Helfern scheint auch die Tiere zu ergreifen. Sie merken ganz genau, dass heute ein besonderer Tag ist. Der Abmarsch ist gleichzeitig der Abschied von der Alp. Hier hat man die vergangenen rund vier Monate verbracht. Jeder Schritt in Richtung Tal ist mit Wehmut verbunden. Von weit her hören sie im Dorf die Glocken der herannahenden Viehsenten. Gäste und Einheimische stehen gleichermassen fasziniert am Strassenrand. Die Alpabfahrt ist immer wieder eine eindrückliche und erlebnisreiche Begegnung mit einem noch aktiv gelebten Brauchtum. Vorneweg die blumenbekränzten Leitkühe. Das Jungvieh macht den Abschluss. Irgendwann werden auch sie an der Spitze des Zuges den Heimweg von der Alp antreten können.

 

Autor

Text: Beat Christen
Bilder: Engelberg-Titlis Tourismus